Präventives Verletzungsrisikomanagement: Um Sporttalente zu Entfalten, müssen wir sie schützen!

von Dr. Kornelius Kraus

Leistungssportler sind einem erhöhten Verletzungsrisiko ausgesetzt. Daher rücken die Verletzungsprävention und der Schutz der Athletengesundheit in den Fokus des IOCs. Allerdings haben die entwickelten Präventionsmaßnahmen noch nicht zur signifikanten Reduktion der Verletzungsprävalenzen geführt. Woran könnte das liegen und welche Lösungsmöglichkeiten gibt es?

50% des Trainerjobs ist es, die Athleten gesund an den Start zu bringen, sagte mir ein Mentor. Dass ein Athlet gesund sein muss, um sein volles Potenzial auszuschöpfen, ist einleuchtend. Doch warum war ihm der Satz so wichtig, obwohl es so offensichtlich ist? 

Von 1950 bis heute hat die Verletzungsprävalenz deutlich zugenommen (Abb.1) - seit zwei Jahrzehnten stagniert sie zwischen 60 bis 70% (Palmer D, Cooper DJ, Emery C et al, 2021). Trotz intensiver wissenschaftlicher Bemühungen und vielversprechender Regenerationsprojekte zur Erforschung relevanter Erholungs- und Regenerationsmethoden konnte bisher keine signifikante Minimierung des Verletzungsrisikos festgestellt werden. Andererseits könnte man argumentieren, dass zumindest ein weiterer Anstieg verhindert wurde. 

Verletzungsprävalenzen der Olympischen Sommer- und Winterspiele von 1950er bis 2018 

(nach Palmer et al. 2021) 

Der Leistungssport steckt in einem Dilemma. Denn viele Athleten trainieren mit Schmerzen, greifen zu Schmerzmitteln bzw. entzündungshemmenden Mitteln, obwohl dadurch die Leistungsfähigkeit abnimmt und Anpassungsprozesse negativ beeinflusst werden (Trappe et al.). 

Über ein Drittel ehemaliger Olympioniken gab an, dass sie nach der Karriere an Gelenkschmerzen und Einschränkungen der Gelenkmobilität leiden. Unter den befragten Athleten erlitten 10% eine Depression, die meisten von Ihnen waren verletzte Sportler. 

Aber warum schaden sich Athleten derart?
75% ehemaliger Olympioniken geben zu, dass sie sich bei Verletzungen selbst unter Druck gesetzt haben, um schnell wieder fit zu werden. In einigen Fällen bauten Trainer und Teamkameraden zusätzlichen Druck auf. Im Vergleich zu früher ist die Belastung der Sportler in jeglicher Hinsicht gestiegen: Sportler performen mit deutlich höherer Geschwindigkeit, haben mehr Wettkampftermine, und müssen sich gegen eine stärkere Konkurrenz behaupten. Zudem sind die medialen Anforderungen durch die sozialen Medien und durch Sponsorenverträge größer geworden. 

Dieses Umfeld schafft den Nährboden für unrealistischen Erwartungsdruck und Versagensängste bei Sportlern. Auf der einen Seite kann dieser Stress Athleten zu neuen Bestleistungen motivieren. Im Falle einer Verletzung hingegen, kann sich das Blatt wenden und in negativen Stress ausarten, der den Heilungsprozess deutlich verlangsamt. Denn bei kognitiven oder körperlichen Belastungen nimmt die katabole Funktion des Sympathikus zu und die anabole parasympathische Funktion wird gehemmt. Das Verständnis und die zweckmäßige Anwendung dieser systemdynamischen Wechselwirkung ist elementar für den langfristigen Schutz und die Leistungsentwicklung des Athleten.  

Einfach mal loslassen und den Organismus machen lassen ist für  viele Athleten und Trainer eine der schwersten Übungen. 

Aus der Sorge nicht genügend getan zu haben, fällt es Sportlern sehr schwer, einfach mal nichts tun, wenn nichts zu tun ist. Aber die Daten legen nahe, dass zu viel zu tun oft schädlicher ist als runterzuschrauben. Training unter Schmerzen oder dem Einfluss von Pharmaka ist nicht nur kontraproduktiv für die Koordination, sondern auch für die leistungsverbessernde Proteinsynthese. Der Sportler schadet sich doppelt und setzt sich bei längerfristigen Schmerzmittelmissbrauch unnötigen Risiken von Magen- bzw. Nierenschädigung aus.

Im Nachhinein wäre es gut gewesen, wenn ich früher mehr Informationen bekommen hätte!

Der Vermittlung von Präventionswissen sollten Trainer- und Betreuerteam mehr Priorität schenken. Denn Athleten fehlt der Erfahrungshorizont und in Kombination mit Euphorie oder Panik steigt die Gefahr einer Verletzung stark an. Die Vermittlung von Wissen und der Schutz des Athleten vor schädlichen Belastungen ist eine der wichtigsten Aufgaben des Trainer- und Betreuerteams. In Sportarten wie der Leichtathletik oder das Gewichtheben sind Leistungsverbesserungen von 1 bis 2% pro Jahr realistisch. Somit sind mittlere Leistungszugewinne pro Trainingseinheit auf Olympischen Level sehr gering (0,005% bei 200 Trainingseinheiten). Demgegenüber stehen potenzielle Leistungsverluste von mehreren Prozent durch trainingsbedingte Schäden. Unzureichende Technik und Ermüdung sind eine häufige Risikokombination für Überlastungsverletzungen und Drop-Outs (Enoksen, 2011). Somit steht bei ungenügender Erholung einem marginalen Leistungszugewinn ein unverhältnismäßiges Verletzungsrisiko gegenüber. 

Schmerzen und Überlastungsverletzungen sind Anzeichen einer Athletenbetreuung, in der energetische und strukturelle Pufferzonen ausgereizt sind. Damit sind die Voraussetzungen für eine gesunde Gelenkfunktion, Lernfähigkeit, starke Immunabwehr und mentale Stärke reduziert. Im Rahmen der Systemtheorie spricht man von energieabbauenden Systemen. Energie ist ein elementarer Treibstoff für Erfolg, daher müssen zunächst die Voraussetzungen für ein energieaufbauendes System geschaffen werden. In diesem Präventionsmodell treten Schmerzfreiheit und Verletzungsminimierung als positive Nebeneffekte auf. Entscheidender Faktor für den Aufbau eines energieaufbauenden Systems ist ein gemeinsamer Wertehorizont (Gesundheit, Leistungsaffinität, Lernen, Kreativität), ein hohes anatomisches, physiologisches und psychologisches Fachwissen, Managementfähigkeiten und anwendungsspezifisches Know-How.

Mehrdimensionale Prävention
Der Wert eines Präventionssystems zeigt sich oberflächlich betrachtet nur indirekt bzw. im Nachhinein, wenn man ungewünschte Outcomes wie Verletzungen, ausgefallene Trainingszeiten, Wettkämpfe und die dadurch entstanden Kosten für die Akut- und chronische Behandlung analysiert. 

Daher sind weitere Parameter wie Leistungsstagnation, Energielevel, Schlaf- und Erholungsqualität, Leistungsmotivation, Teamspirit, Bewegungssymmetrie und das Auftreten von Schmerzen im Training für die systemdynamische Analyse interessant. Beispielsweise sollten Schlafparameter eine elementare Bewertungsgröße in Präventionsprogrammen sein, da Schlaf die Konzentration, Immunstärke, Erholung und Regeneration steigert (Walker, 2018). Ebenso sind die Steigerung der muskulären und geistigen Entspannungsfähigkeit, die Atemtechnik sowie das Verständnis von Erholungs- und Regenerationsmaßnahmen relevante Messgrößen für den Erfolg von Präventionsprogrammen. Dieser mehrdimensionale Kontext liefert den Rahmen für eine systematische Bewertung des Präventionsmanagements im mittel- bis langfristigen Zeithorizont. 

Auch für leistungsfördernde Innovationen leiten sich aus dem systemdynamischen Prävention Forderungen wie die Erhöhung des Sicherheitsaspekt ab. Hierzu einige Beispiele aus der Sportzahnmedizin: 
1. Die Performanceschiene soll durch eine verbesserte Rumpfvorspannung zu höheren Muskelaktivitäten in der Leistungsmuskulatur und damit zu einer verbesserten Leistungsfähigkeit beitragen. Ungeklärt ist allerdings, ob das Verletzungsrisiko bei hochintensiven Belastungen erhöht ist, wenn nach längerem Training mit Performanceschiene und dem dadurch bedingten höheren Leistungspotential die Schiene nicht getragen wird (z.B. wegen Beschädigung). Diese Erkenntnis ist wichtig, um den langfristigen Mehrwert von Performanceschienen für die Prävention und Leistungsoptimierung zu bewerten. 

2. Eine Entspannungsschiene kann den Athleten vor dem Abbau wertvoller Zahnsubstanz schützen und gleichzeitig negativen Haltungseffekten vorbeugen. 

Technische Innovationen, neues Wissen und Strategien sollen Veränderung bewirken. Für den schonenden Umgang mit Sporttalenten sind vor allem Strategien und Technologien für den Schutz des Leistungspotentials zur mittel- und langfristigen Leistungsentwicklung und nach der Karriere erforderlich. Um den neuen Anforderungen nachzukommen sind neue Aufgabenfelder im Bereich Erholung, Entspannung und Regeneration nötig. Diese Veränderungen sind notwendig, um wichtige Ressourcen bei der kurzfristigen Symptombehandlung zu schonen und wertschöpfend in mittel- bis langfristig orientierte Systeme zu investieren. Aus ökonomischer und ökologischer Perspektive spricht wenig gegen diesen Ansatz. Mit diesem Beitrag möchte ich zur Gestaltung und Evaluation interdisziplinärer Präventionssysteme beitragen. Denn nicht nur der Leistungssport, sondern die ganze Gesellschaft sollten hiervon profitieren.

Literatur

Enoksen, E. Drop-out rate and drop-out reasons among promising Norwegian track and field athletes: A 25-year study. Scandinavian Sport Studies Forum 2011,2:19-43.

Palmer D, Cooper DJ, Emery C et al. Self-reported sports injuries and later-life health status in 3357 retired Olympians from 131 countries: a cross-sectional survey among those competing in the games between London 1948 and PyeongChang 2018. Br J Sports Med 2021; 55:46-53.

Trappe TA, White F, Lambert CP, et al. Effect of ibuprofen and acetaminophen on postexercise muscle protein synthesis. Am J Physiol Endocrinol Metab 2002; 282: E551-6. 

Walker M. Why we sleep. The new Science of Sleep and Dreams. London: Penguin, 2018