Vitamin G - ein wenig beachteter Gesundheitsfaktor?  
von Dr. Kornelius Kraus

Chronische Entzündung (Silent Inflammation) ist eine Hauptursache für nahezu alle Krankheiten, da sind sich nahezu alle Physiologen einig. Die Lösungsansätze zur Reduktion bzw. Hemmung der Entzündungskaskade hingegen sind vielfältig. Die Pioniere der Erdungsbewegung vertreten den Standpunkt, dass natürliche Erdung ein Limitationsfaktor in der westlichen Welt darstellt. Sie argumentieren, dass dem Körper ohne direkten Erdkontakt essenzielle elektrische Nahrung fehlt und damit das elektrische Mikroumfeld des Organismus gestört sein soll. Daher bezeichnen einige Autoren Grounding bzw. Earthing als Vitamin G.

Seit mehr als 20 Jahren beschäftigen sich Praktiker und Forscher mit den Effekten der natürlichen Erdung auf den Menschen. Studien belegen die positive Wirkung von natürlicher Erdung bzw. den Mangel von natürlicher Erdung auf Schlaf, Erholung und Regeneration. 

Wissenschaftler erklären, dass möglicherweise freie Elektronen die Bildung der Entzündungsbarriere verhindern bzw. überwinden können, da sie ein antioxidatives Mikroökosystem um die Verletzung bilden und den negativen Einfluss von reaktiven oxidativen Spezies reduzieren, welcher durch den oxidativen Burst verursacht werden sollen (1). Allerdings muss die Validität dieses Erklärungsmodells noch intensiver untersucht werden.

Ist fehlende Erdung ein Mangelfaktor?

Der Mediziner Sinatra, der Atomphysiker Chevalier und der Biophysiker Oschman haben bei Patienten beobachtet, dass bei natürlich geerdeten Menschen Wunden schneller heilen können bzw. die Regeneration verbessert werden kann. Mittels Infrarotthermografie-Screening konnte in 20 Fallstudien eine deutliche Reduktion der Rötung, Schwellung, Schmerz und Funktionseinschränkung infolge der Anwendung von Erdungstechnologie beobachtet werden. Selbst bei Extremfällen, z.B. aus dem Hochleistungssport oder bei geschwächten Immunsystemen (Diabetes Typ II und hohes Alter) konnten enorme Effekte in der Wundheilung beobachtet werden, sodass sie hinter der natürlichen Erdung einen elementaren Gesundheitsfaktor annahmen (2).

Jedoch wird im Leistungssport immer mehr als nur eine Methode eingesetzt und auch beim eindrucksvollen Beispiel der Wundheilung einer 84-Jährigen können Placebo- bzw. Nocebo-Effekte nicht ausgeschlossen werden. Allerdings variieren die methodischen Standards und Berichtqualität bei Fallstudien stark. Welche Ergebnisse lieferten methodisch validere Methoden? Doch bevor wir diesen Fragen nachgehen sollten wir klären was Erdung ist und den Horizont für Phänomen etwas skizzieren. 

Was ist Erdung?

Erdung (engl. Earthing oder Grounding) beschreibt den direkten Körperkontakt zur Erde. Dies kann beispielsweise durch Barfußlaufen auf der Erde oder beim Gärtnern (ohne Handschuhe) erreicht werden (natürliche Erdung). Alternativ kann dies durch Erdungstechnologie (Bettlaken, etc.) erreicht werden. Durch den direkten Körperkontakt soll ein natürlicher Austausch der elektrischen Ladung und Frequenzdynamik der Erdoberfläche (Elektronen) stattfinden (2) Bestandteil des Erdungsphänomens sind die nicht uniformen Schumann-Resonanzen, welche den Rhythmus der Elektronenbewegung auf der Erdoberfläche beeinflussen. Daher ist das elektrische Feld der Erde aktiv und dynamisch. Die wesentlichen Stromgeneratoren sind die Solarwinde, ionosphärischen Winde und Gewitter, welche stetig die Ionosphäre positiv aufladen und die Erdoberfläche mit negativer Ladung versorgen (3).

Natürliche Erdung ist ein elektrischer Sicherheitsstandard. Jede Steckdose ist geerdet, um sie stabiler und sicherer zu machen. Das betrifft auch jedes Gerät, was an eine geerdete Steckdose angeschlossen wird. 

Durch die rasante Elektrifizierung der Welt können wir die Nacht zum Tag machen. Allerdings können wir durch unbewussten Lichtkonsum den Serotonin-Melatoninrhythmus negativ verändern.4 Durch den Anstieg der geistigen Bürotätigkeit hat sich die natürliche Lichtversorgung negativ verändert. Ebenso hat der reduzierte körperliche Arbeitsanteil positive und negative Folgen für die Menschen und die Gesellschaft.  Laut Sinatra et al. sind die Menschen in den Industrienationen kaum noch geerdet. Augenscheinlich macht diese Annahme Sinn. Die Menschen schlafen nicht mehr auf der Erde, laufen kaum barfuß und nur noch Wenige haben durch ihre Arbeit oder Tätigkeiten Kontakt mit der Erde. Wir bewegen uns meistens in Gebäuden auf unnatürlichen Materialien bzw. mit Fahrzeugen. Nach Oschman et al. Analyse bestand das Schuhangebot um 1950 noch zu 95% aus Lederschuhen, während es heute von synthetischen Schuhen dominiert wird. Dies ist ein Indiz, dass die Menschen mit großer Wahrscheinlichkeit im Alltag weniger geerdet sind (vgl. Sinatra et al. 2023) (5).  

Seit 1950 nehmen Diabetes Typ 2, Krebs, Herzkreislauf- und neurodegenerative Krankheiten in den Industrienationen enorm zu. Mit diesen Krankheitsbildern korrelieren reduzierte Schlafzeiten, die Anzahl Übergewichtiger, Bewegungsmangel oder die Metabolomvielfalt etc. Und dennoch werden die Menschen älter aber auf Kosten von Gesundheit, Gesellschaft und Natur. 

Die USA als Symbol der westlichen Welt verbrennt innerlich. 

Eine Statistik des Center for Disease and Prevention zeigt, dass in den USA 12% Diabetiker und über 38% bereits Prädiabetiker sind (National Diabetes Report, 2022). Allein diese Diagnose zeigt die chronischen Fehlfunktion der Regulationsmechanismen des Organismus bei 200 Millionen Amerikanern an! Ebenso zeigen hohe Verletzungsinzidenzen im Leistungssport, dass Sporttalente ihr Potential nicht entfalten können. Vor allem für Nachwuchstalente ist der Ruf nach einfachen und bezahlbaren Lösungen zur Steigerung der Regeneration und Erholung immer präsent. Genau diese Anforderungen treffen auf den Gesundheitsfaktor natürliche Erdung zu.

In diesem multifaktoriellen Kontext fanden die Studien zu Erdungseffekten auf Schlaf, Regulation und Regeneration statt. Wissenschaftler und Therapeuten berichten von positiven Effekten der Erdung auf Stressminderung, Schlafqualität, Schmerzreduktion und Blutviskosität (6,7,8).

Sokal & Sokal untersuchten die Effekte von natürlicher Erdung auf biochemische Prozesse und konnten signifikante Verbesserungen biochemischer Parameter zeigen (9). Ghaly und Teplitz beobachteten reduzierte Cortisolspiegel und Schlafverbesserung als Folge der Erdung (7). Mit übermäßigem chronischen Stress steht eine Glucocorticoid-Rezeptor-Resistenz in Verbindung, wodurch chronische Entzündungsprozesse schlechter abheilen. Brown, Chevalier und Hill (2010) haben den Effekt von Erdung auf Schmerzverlauf und Entzündungsprozesse beobachtet. In ihrer Pilotstudie (N=8) konnten sie signifikante Verbesserungen hinsichtlich DOMS und Entzündungsparametern feststellen (10).

Eine aktuellere Studie zum Effekt von Erdung während des Schlafs auf die Regeneration nach einer exzentrischen Belastung wurde an der Universität Salzburg durchgeführt. Die Forscher schlussfolgern: Erdung könne eine einfache Methode zur Verbesserung der akuten und langfristigen Erholung nach intensiver körperlicher Betätigung und sportlichem Training darstellen, für die es derzeit keine etablierten Behandlungsstrategien gebe. Der Blick in die Daten wirft allerdings ein paar Fragen auf. Denn die Laktatwerte der Erdungsgruppe sind deutlich geringer (3,2±1,3 mmol/l) als jene der Kontrollgruppe (5,1±2,9 mmol/l). Ebenso brachte die Erdungsgruppe im Dropjump (E: 34,2±5,2 cm vs. K:28,3±5,2 cm) und im Countermovementjump (E: 31,3±7,5 cm vs. K: 27,4±7,4 cm) eine deutlich höhere Leistung, welche mit einem höheren Leistungspotenzial im Dehnungsverkürzungszyklus in Verbindung stehen.11 Das höhere muskuloskelettale Leistungsniveau der Erdungsgruppe ist ein Indiz für die geringere strukturelle Belastung und erklärt den geringeren Leistungsabfall direkt nach Belastung möglicherweise (Baseline bis 5 Minuten nach Belastung) beim Countermovement-Jump (E: 16% vs. K:11%) und Dropjump (E: 21,5% vs. K: 17,5%). Aufgrund dieser ungünstigen Voraussetzungen sind die Ergebnisse dieser Untersuchung für mich schwierig einzuschätzen. Spannend wären die Verläufe, wenn die Voraussetzungen umgekehrt gewesen wären. 

Eine weitere Untersuchung (Muniz-Pardos et al. 2022) beschäftigte sich mit dem direkten Einfluss geerdeter Schuhe auf die sportliche Leistungsfähigkeit. Bei hochtrainierten Läufern (N=10; VO2max>69,9 ml/kg/min) zeigten sich keine direkten Effekte geerdeter Schuhe auf die Laufökonomie bei 80% der VO2max. Die Untersuchungsergebnisse erscheinen reliabel und valide aufgrund der Stichprobenauswahl und dem Studienprotokoll (Doppelblind, randomisiert, Cross-Over). Basierend auf den Daten haben geerdete Schuhe keinen direkten Effekt auf die Leistungsfähigkeit (12). Hier spielen andere Parameter eine größere Rolle. Jedoch sagt dieses Ergebnis nichts über eine mögliche Zeitverzögerung nichtlinearer Effekte aus.

Fernab des Leistungssports und chronischen Krankheiten kann Erdung auf der Frühgeborenenstation eine Bereicherung darstellen

Die Forschungsgruppe um Bellieni et al. untersuchte den Einfluss von Inkubatoren induzierten elektromagnetischen Felder (EMF) auf Säuglinge. Nach ihren Untersuchungen und Literaturanalysen können die EMF von Inkubatoren den Serotonin-Melatoninkreislauf sowie das autonome Nervensystem der Babys negativ beeinflussen (13–15).

Eine Studie von Ärzten der Neugeborenen-Intensivstation des Pennsylvania State University Children's Hospital in Hershey zeigt, das Erden von Frühgeborenen zu sofortigen und signifikanten Verbesserungen bei Messungen der Funktion des autonomen Nervensystems (ANS) führte, welches für die Regulierung von Entzündungs- und Stressreaktionen von entscheidender Bedeutung ist.

Die Erdung der Säuglinge führte zu einer signifikanten Erhöhung der Herzfrequenzvariabilität (HRV) was auf eine verbesserte Balance von Sympathikus und Parasympathikus hindeutet. Die Erdung wurde erreicht, indem ein Erdungspflaster (ähnlich einer EKG-Elektrode) auf die Haut der Babys geklebt wurde, während sie in ihren Inkubatoren oder Kinderbetten lagen, und der Pflasterdraht an das Erdungssystem des Krankenhauses angeschlossen wurde.

Bei den getesteten Säuglingen erhöhte sich der Parasympathikotonus durch die Erdung innerhalb von Minuten, berichten die Autoren. Dies kann ein elementarer Faktor sein, denn die Vorarbeiten der Forschergruppe zeigen, dass ein geringer Vagustonus ein wichtiger Risikofaktor für nekrotisierende Enterokolitis sei (16). Mit dem heutigen Wissen kann mithilfe der Erdung der negative Einfluss von Inkubatoren induzierte EMF reduziert werden. Allerdings fehlen bis dato Untersuchungen, welche diese Ergebnisse replizieren und kritisch hinterfragen. 

Inkubatoren stellen ein unnatürliches Lebensumfeld dar und nähren die Arbeitshypothese für Erdung als Vitamin G. Inwiefern das Hauptargument, dass durch fehlende natürliche Erdung der Organismus einem Elektronen-Ungleichgewicht ausgesetzt sei und ihm dadurch natürliche Antioxidantien fehlen, muss noch geklärt werden. Für mich ist das Denkmodell einer elektromagnetischen Homöostase spannend und eröffnet neue Denkwege für die Forschung und Praxis. Jedoch sind hier noch viele Fragen ungeklärt wie Vergleiche zu anderen Methoden oder integrative Therapien.

Für den praktischen Einsatz stellt Erdung eine einfache komplementär medizinische Ergänzung dar. Sie ist kostenlos bzw. sehr günstig umzusetzen und die bisherigen Ergebnisse sind vielversprechend. 

Hinweis: Dieser Beitrag wurde in der Sportärztezeitung veröffentlicht.

Weitere Infos für eine stimmige Lebensweise und verbesserten Schlaf finden Sie in unserem Buch - Zukunftstauglich leben

LITERATUR

1.    Sinatra ST, Oschman JL, Chevalier G, Sinatra D. Electric Nutrition: The Surprising Health and Healing Benefits of Biological Grounding (Earthing). Altern Ther Health Med. 2017;23(5):8-16.

2.    Oschman J, Chevalier G, Brown R. The effects of grounding (earthing) on inflammation, the immune response, wound healing, and prevention and treatment of chronic inflammatory and autoimmune diseases. J Inflamm Res. Published online March 2015:83. doi:10.2147/JIR.S69656

3.    König HL. Unsichtbare Umwelt: der Mensch im Spielfeld elektromagnetischer Feldkräfte ; Geophysik, technische Felder, Feldwirkung, Wetterfühligkeit, Baubiologie, Wünschelruteneffekt. 6. Aufl. Michaels-Verl; 2012.

4.    Duffy JF, Czeisler CA. Effect of Light on Human Circadian Physiology. Sleep Med Clin. 2009;4(2):165-177. doi:10.1016/j.jsmc.2009.01.004

5.    Sinatra ST, Sinatra DS, Sinatra SW, Chevalier G. Grounding - The universal anti-inflammatory remedy. Biomed J. 2023;46(1):11-16. doi:10.1016/j.bj.2022.12.002

6.    Lin CH, Tseng ST, Chuang YC, Kuo CE, Chen NC. Grounding the Body Improves Sleep Quality in Patients with Mild Alzheimer’s Disease: A Pilot Study. Healthc Basel Switz. 2022;10(3):581. doi:10.3390/healthcare10030581

7.    Ghaly M, Teplitz D. The biologic effects of grounding the human body during sleep as measured by cortisol levels and subjective reporting of sleep, pain, and stress. J Altern Complement Med N Y N. 2004;10(5):767-776. doi:10.1089/acm.2004.10.767

8.    Menigoz W, Latz TT, Ely RA, Kamei C, Melvin G, Sinatra D. Integrative and lifestyle medicine strategies should include Earthing (grounding): Review of research evidence and clinical observations. Explore N Y N. 2020;16(3):152-160. doi:10.1016/j.explore.2019.10.005

9.    Sokal K, Sokal P. Earthing the human body influences physiologic processes. J Altern Complement Med N Y N. 2011;17(4):301-308. doi:10.1089/acm.2010.0687

10.  Brown D, Chevalier G, Hill M. Pilot study on the effect of grounding on delayed-onset muscle soreness. J Altern Complement Med N Y N. 2010;16(3):265-273. doi:10.1089/acm.2009.0399

11.   Müller E, Pröller P, Ferreira-Briza F, Aglas L, Stöggl T. Effectiveness of Grounded Sleeping on Recovery After Intensive Eccentric Muscle Loading. Front Physiol. 2019;10:35. doi:10.3389/fphys.2019.00035

12.  Muniz-Pardos B, Zelenkova I, Gonzalez-Aguero A, et al. The Impact of Grounding in Running Shoes on Indices of Performance in Elite Competitive Athletes. Int J Environ Res Public Health. 2022;19(3):1317. doi:10.3390/ijerph19031317

13.   Bellieni CV, Acampa M, Maffei M, et al. Electromagnetic fields produced by incubators influence heart rate variability in newborns. Arch Dis Child Fetal Neonatal Ed. 2008;93(4):F298-301. doi:10.1136/adc.2007.132738

14.   Bellieni CV, Tei M, Iacoponi F, et al. Is newborn melatonin production influenced by magnetic fields produced by incubators? Early Hum Dev. 2012;88(8):707-710. doi:10.1016/j.earlhumdev.2012.02.015

15.  Bellieni CV, Nardi V, Buonocore G, Di Fabio S, Pinto I, Verrotti A. Electromagnetic fields in neonatal incubators: the reasons for an alert. J Matern-Fetal Neonatal Med Off J Eur Assoc Perinat Med Fed Asia Ocean Perinat Soc Int Soc Perinat Obstet. 2019;32(4):695-699. doi:10.1080/14767058.2017.1390559

16.   Passi R, Doheny KK, Gordin Y, Hinssen H, Palmer C. Electrical Grounding Improves Vagal Tone in Preterm Infants. Neonatology. 2017;112(2):187-192. doi:10.1159/00047574